Ralf Peters
Das Fade in der Stimme[1]
Die meisten Leute im so genannten Westen würden
wahrscheinlich darin übereinstimmen, dass ein Kunstwerk oder eine Aufführung
eines nicht sein sollte: fade. Das gleiche gilt vielleicht noch mehr für ein
Essen, ein Getränk, eigentlich für jede Form der sinnlichen Wahrnehmung, die
als solche eine (angenehme, förderliche) Wirkung auf den Menschen haben soll.
In China, genauer im altchinesischen Denken, sieht die Sache
etwas anders aus. Hier ist das Fade merkwürdigerweise absolut positiv
konnotiert. Zu einer taoistischen Grundeinstellung etwa würde es gehören, die
Fadheit auf verschiedenen Ebenen ins Leben zu lassen.
So heißt es im TaoTeKing des Laotse:
„Musik und gute Speisen
halten Fremde an, die vorüberreisen.
Wenn das Tao durch den Mund geht,
ist es fade und ohne Geschmack.
Man kann es nicht sehen;
Man kann es nicht hören;
Und doch ist es unerschöpflich.“ [2]
Was soll mich als Stimmkünstler an dieser Idee des Faden
interessieren oder gar reizen? Ist die Extended Voice Kunst nicht genau das
Gegenteil einer faden Kunst, versucht sie doch, so viele Facetten der Stimme in
den künstlerischen Ausdruck zu bringen wie irgend möglich, die Vielfalt also in
Richtung des Unermeßlichen zu erweitern und so die Erfahrung des Publikums
aufregend, ungewöhnlich und eindrucksvoll zu gestalten? Das Fade dagegen hat
keine Facetten, keine hervorstechenden Eigenschaften. Ein fades Essen schmeckt
nach nichts, ist nicht gewürzt und besitzt keinen charakteristischen
Eigengeschmack. Was sollte also an einer faden Stimme erstrebenswert oder
reizvoll sein? Meine Vermutung, der ich hier auf den Grund gehen will, erahnt
in der faden Eigenschaftslosigkeit eine besondere Form von (stimmlicher)
Freiheit. Wir werden noch sehen, was damit gemeint sein könnte.
In der europäischen Philosophie, namentlich von Hegel, wurde
Konfuzius, der die chinesische Kultur am nachhaltigsten geprägt hat, ein Denken
attestiert, das nicht über die Qualität besserer Kalendersprüche hinauszugehen
scheint. Da gibt es keine originelle Theorie, da wird nicht neu gedacht und
erst recht keine metaphysische Spekulation gewagt. Was Konfuzius in seinen
meistens kurzen Aussprüchen von sich gibt, bleibt oft fade. Die Erwartungen
eines Großdenkers wie Hegel werden systematisch unterlaufen. Aber die Größe
eines Weisen wie Konfuzius kann man nicht einfach bestreiten, mit
Kalendersprüchen prägt man nicht über Jahrtausende eine der großen Kulturen der
Menschheit. Was hat Hegel da nicht verstanden? Was ist ihm, dem europäischen
Philosophen, entgangen?
Eine zufriedenstellende Antwort auf diese Frage wäre zugleich
eine umfassende komparative Studie zum europäischen und chinesischen Denken[3].
Für unseren Zusammenhang (der Stimmkunst) ist ein Aspekt dieses Unterschieds im
Denken besonders relevant. Der europäische Philosoph ist (war?) ein Denker des
Allgemeinen, das in klaren und distinkten Aussagen und Theorien formuliert ist.
Aufgabe des Lesers oder Zuhörers ist es, die philosophischen Gebäude so genau
wie möglich im eigenen Intellekt nachzuvollziehen (und ihre Wahrheit zu
erkennen). Der chinesische Weise dagegen ist ein Denker des Situativen, der
seine Hinweise in oft unscheinbaren Anspielungen gibt, die vieles offen lassen.
Und genau diese Offenheit ist es, die der Leser zu nutzen aufgefordert ist, um
die Hinweise wiederum auf seine Situation zu beziehen und die Lehre daraus zu
ziehen. Die Arbeit des Lesers chinesischer Werke ist daher ganz anders gelagert
als die einer westlich-philosophischen Lektüre. Das wird vielleicht noch
deutlicher bei einem anderen kulturprägenden Denker Chinas, bei Laotse, dem
(wahrscheinlichem) Verfasser des TaoTeKing, einem Werk, das allerdings
zumindest auf westliche Leser alles andere als fade wirkt, sondern im Gegenteil
einen eigentümlichen Reiz ausübt. Der Versuch, das TaoTeKing als ein
philosophisches Weisheitsbuch voller allgemeiner Wahrheiten zu lesen, geht
völlig am Eigentlichen vorbei. Da gibt es keine allgemeinen Wahrheiten,
sondern Sätze und Sprüche, die erst in der aktuellen situativen Anwendung ihre
ungeheure Kraft und Wirkung entfalten[4].
Was hat dies alles mit Fadheit zu tun? Fadheit stellt im
Taoismus das Fundament der Realität dar, oder besser, in den Worten Julliens,
den Fonds, aus dem sich die Welt mit all ihren charakteristischen Eigenheiten
erheben kann. Der Fonds ist fade, weil er noch vor aller Festlegung ist. Jeder
Geschmack ist auf sich festgelegt, er kann nur sein, was er ist und zugleich
auf sein Gegenteil verweisen. Das Fade als das Geschmacklose aber hält den Raum
möglicher Geschmäcker ganz offen. Weil es keine Festlegung gibt, ist noch alles
möglich. Deshalb „schmeckt der Weise, was ohne Geschmack ist“, so wie er „tut,
was ohne Tun ist und schafft, was ohne Geschäft ist“[5].
Die grundlegende Polarität der Welt, für die heute sozusagen
global-folkloristisch das Yin/Yang
als Chiffre fungiert, diese Polarität führt „von selbst“ vom Faden zum
Geschmackvollen. Da gibt es nichts zu tun, denn das Fade besitzt in sich die
Neigung zu seinem anderen Pol. Diese von selbst ablaufenden Prozesse, für die
im klassischen Chinesisch der Begriff ziran
steht, sind eines der großen Themen der chinesischen Weisheitslehre. Je genauer
ich die Fadheit, die (noch) keine individuelle Charakteristik besitzt,
„schmecken“ kann, umso besser kann ich erkennen, wohin oder zu welchem
Geschmack sich das Fade in dieser Situation entwickeln will. Dieser Neigung des
Faden kann ich folgen und sie für mich nutzbar machen, ohne handelnd, d.h. den
natürlichen Lauf der Dinge ändernd, eingreifen zu müssen.
Wenn ich als Stimmkünstler versuche, diese Prozesslogik auf meine
Stimme zu übertragen, wird es darum gehen, die Stimme von allen
charakteristischen, interessanten oder gar originellen Klängen und Tönen zu
entleeren und dann von diesem Ort des Faden aus nachzuhorchen, wohin die Stimme
sich von selbst entwickeln will. Die Suche nach dem Faden in der Stimme wäre
also die Suche nach einer großen Offenheit der Stimme für all ihre Potentiale
und zugleich die Schulung des Gehörs hin zu einer Offenheit, die bemerkt, wohin
die Stimme sich aus dem Faden heraus bewegen will. Stimme und Gehör sollen auf
dem faden Weg befreit werden von individuellen Wünschen, Vorlieben und
Gewohnheiten, die Persönlichkeit darf ausruhen und dem offenen Stimmfeld die
Regie überlassen.
Meine Dao-Series sind der Versuch, mich dieser stimmlichen
Prozesslogik des Faden anzunähern.
Im Chinesischen bedeutet das Wort dan sowohl Fadheit als auch innere Loslösung, denn, wie Jullien
ausführt, „der in den Dingen empfundenen Fadheit entspricht die Fähigkeit zur
inneren Loslösung“, der „Geschmack fesselt uns, die Fadheit löst uns los“[6].
Loslösung von den eigenen Vorlieben, Gewohnheiten und vielleicht auch Ängsten
über den Umweg der Fadheit - mit diesem daoistischen Versprechen eröffnet sich
dem Stimmkünstler ein Weg, die Stimme gewähren zu lassen, ihr die Freiheit zu
erlauben, den eigenen (daoistisch formuliert: den natürlichen) Neigungen zu
folgen und sie auszuleben. Die Fadheit ist dabei die innere Situation, die alle
stimmlichen Möglichkeiten eröffnet und miteinander in Verbindung hält, die die
Grundlage darbietet, auf der auch die Extreme miteinander kommunizieren könne. In
meiner Terminologie gesagt: Die Fadheit ist die Grundfarbe des offenen
Stimmfeldes. Hier ist die Stimme bei sich. Wenn es mir gelingt, meine Stimme in
die Fadheit zu bewegen, ist von dort aus
„alles“ möglich.
Langsamer Rhythmus,
entspanntes Spiel:
In tiefer Nacht eine
einfache Melodie.
Sie dringt ins Ohr, fade,
und ohne Geschmack;
Das Herz ist ruhig, die
Gefühle ganz bei sich.[7]
Noch in einer anderen Hinsicht ist das Fade stimmkünstlerisch
von Belang. Bisher war von der Fadheit als einer Voraussetzung die Rede, die
der Stimme die freie Bewegung auf dem ganzen Stimmfeld ermöglichen kann.[8]
Doch die musikalische Tradition in China hat dem faden Klang selbst durchaus
einen positiven Wert zugeschrieben. Nicht der lauteste Klang ist der
wirkungsvollste, heißt es da, sondern derjenige, der den stärksten Nachklang
erzeugt. Nachklang benötigt Stille, und je enger die musikalisch erzeugten Klängen
und die Stille verwoben sind, um so stärker wird die Wirkung meiner Musik sein.
Nicht Ausbeutung des Klanges bis zum letzten[9],
sondern Raum schaffen für einen Nachklang im Bewußtsein des Hörers ist das Ziel
der Musik.
Die Idee des Nachklanges ist für die Stimmkunst überaus
reizvoll. Denn im Zuhören einer anderen Stimme werde ich immer auch meine
eigene Stimme hören. Die Stimme ist das „Instrument“, das alle Menschen in sich
tragen. Bei aller individuellen Unterschiedlichkeit im Stimmklang gibt es einen
gemeinsamen Fonds, gibt es das Wissen und manchmal auch nur die Ahnung, dass
die Klänge, die ich gerade höre, auch aus mir kommen könnten, Teil meiner
Stimme sind und in ihr lebendig werden könnten. Der Raum des Nachklanges wird
mir erleichtern, in diese Erinnerung und Anregung einzutauchen. Die Fadheit
wirkt dabei wie eine freundliche Einladung, diesen gemeinsamen Raum zu
betreten. Denn im anstrengungslosen, faden, künstlerisch noch ungeformten
Stimmklang finden wir uns am ehesten wieder. Dazu kommt ein weiterer Aspekt,
der in der Roy Hart Stimmentwicklung im Zentrum steht: Die menschliche Stimme
ist weder beim Singenden noch beim Zuhörenden je ein rein klangliches Phänomen.
Die Stimme ist verbunden mit einer inneren Situation, einer Stimmung, genauer gesagt
ist sie Teil dieser Stimmung, der Teil, der in Kommunikation mit der äußeren
Situation und Stimmung treten kann[10].
Als hörbare Stimme trifft sie auf das Gehör eines anderen, der die Stimme in
die eigene Stimmung einfließen lassen kann, die, dadurch beeinflusst, eine neue
Farbe annimmt. Da muss nicht notwendigerweise im Zuhörenden dieselbe Stimmung
entstehen wie beim Tönenden, aber der Raum für diese Berührung der inneren
Situationen wird von der Stimme geöffnet – und von der Stille vervollkommnet,
könnte man aus chinesischer Perspektive hinzufügen. Diese „innere Empfindung“
lebendig zu machen und zu halten ist für die chinesische musikalische Tradition
das Anzustrebende. Dafür muss es nicht einmal notwendig sein, überhaupt einen
Ton zu erzeugen.
„Dian ließ den Ton seiner
Zither vergehen,
Zhao enthielt sich des
Saitenspiels:
In all dem ist eine
Melodie, die man singen
und nach der man tanzen
kann.“
heißt es in einem Gedicht von Su Dongpo[11].
Es gibt also verschiedene Ansatzpunkte, um das Fade in die
Extended Voice einzubringen. Die „Dao Series No. 2“ am 18. und 19. September im
TAV widmen sich diesem Thema.
[1]
Diese Gedanken zum Faden in der
Extended Voice orientieren sich stark an Francois Julliens Buch „Über das Fade
– eine Eloge“. Berlin 1999, original: Eloge de la Fadeur, Arles 1990
[2]
zitiert nach Jullien in der Übersetzung
von Günter Debon.
[3]
Francois Jullien hat diese Arbeit
geleistet und ich kann hier nur dazu ermuntern, seine Bücher zu lesen.
[4]
Deshalb gibt es, wie der
südafrikanische Taoismusforscher James Edwards sagt, auch keine „falschen“
Übersetzungen des Buches des Wegs und der Wirkung. Jede Übersetzung stellt
selbst eine situativ geprägte Wirkung des TaoTeKing dar. Edwards ruft deshalb
dazu auf, seine eigene Übersetzung anzufertigen, statt sich (nur) auf andere zu
verlassen! Vgl. James Edwards: The Immortal Idiot. An eternal notebook, Hsinchu
2012
[5]
Jullien, S. 33
[6]
Jullien, S. 35f.
[7] Bo Juyi, ein chinesischer
Dichter des 8./9. Jahrhunderts, zitiern nach Jullien S.91
[8]
Nebenbei: Das sind natürlich alles
Vermutungen meinerseits, die mir als Arbeitshypothesen u.a. für die Dao-Series
dienen. Ob sie sich im künstlerischen Prozess bestätigen, wird sich jedes Mal
neu erweisen müssen. Ich suche nicht nach der „Wahrheit“ des Faden, sondern
nach Wegen der Stimmbefreiung.
[9]
vgl. Jullien, S. 67!
[10]
Sie ist nicht der einzige Teil, auch
der Körper kann diese Kommunikation beginnen, ebenso wie der Geist, wenn er
z.B. mit Hilfe der Hand etwas aufschreibt.
[11]
zitiert nach Jullien, S. 81
No comments:
Post a Comment