In der Kulturzeit-Extra-Sendung zum Weltfrauentag am 8. März 2021
https://www.3sat.de/kultur/kulturzeit/kulturzeit-extra-jahrhundert-der-frauen-100.html
gab es ein kurzes Interview mit Katarina Barley, SPD-Politikerin und zur Zeit Vizepräsidentin des Europa-Parlaments. Sie antwortet darin auf die Frage, was passieren muss, damit dieses Jahrhundert ein Jahrhundert der Frauen wird.
Der erste Teil der Antwort läuft darauf hinaus, dass sich nicht nur auf der lebenspraktischen und politischen Ebene einiges ändern muss, sondern auch Veränderung „in den Köpfen“ notwendig sei. Abgesehen davon, dass die Metapher von den Köpfen Teil des Problems und nicht der Lösung ist – weil sie die überrationalisierte Grundsituation der patriarchal und kapitalistisch geprägten Welt unterstützt – kann man dem sicher zustimmen.
Interessanter ist für mich der zweite Teil der Antwort, in dem Frau Barley ihre Gedanken am Beispiel der Stimme erörtert. Da heißt es:
„Manchmal passiert unterschwellig etwas, das man nicht unterschätzen sollte. Z.B. der Faktor Stimme.
Frauen haben meistens eine höhere Frequenz als Männer und das hat eine Auswirkung. Die kann man messen. Wir müssen generell dazu kommen, dass man nicht nach Oberflächlichkeiten und Äußerlichkeiten urteilt.“
Das klingt sehr kryptisch und ist wahrscheinlich ein Beispiel für Statements von Politiker*innen, die gelernt haben, mit kurzen Sätzen und unverbindlichen Formulierungen die Gefahr des böswilligen Missverstandenwerdens zu minimieren.
Trotzdem bieten die Sätze ein paar Anknüpfungspunkte für weitergehende Überlegungen zur Rolle der Stimme im allgemeinen und im Prozess der Gleichberechtigung von Frauen und Männern.
Ich fange hinten an. Frau Barley zählt die Stimme offenbar zu den Oberflächlichkeiten und Äußerlichkeiten, die nicht an den Kern einer Person heranführen. Das ist meiner Ansicht nach ein Irrtum. Die Stimme ist keine Äußerlichkeit, sondern integraler Teil der Persönlichkeit. Dadurch wird der Aspekt, auf den Frau Barley hinaus will, wichtiger, als sie selbst annimmt.
Denn es stimmt: Die Stimmen von Frauen haben tendenziell eine höhere Lage als männliche Stimmen und das hat eine Auswirkung darauf, wie sich Frauen und Männer im Gespräch gegenseitig wahrnehmen und beurteilen. (Allerdings ist die Stimmhöhe dabei nur ein Aspekt. Stimmen haben ein Stimmfarbenspektrum, das in fast allen Fällen eindeutig weiblich oder männlich klingt.)
Hohe Frauenstimmen werden – übrigens von Männern und von Frauen – nicht leicht ernst genommen. Daraus erklärt sich, dass im halbwegs seriösen Journalismus hauptsächlich Frauen mit relativ tiefer Stimme zu hören sind und die hohen Stimmen sich tendenziell im Boulevard tummeln. Auch die Kulturzeitsendung, in der Frau Barley zu Wort kam, ist ein gutes Beispiel für diese Tendenz. Zwei junge Frauen, die als feministische Stimmen der Millenials gelten und ausgiebig interviewt wurden – Sophie Passmann in Deutschland und Jia Tolentino in den USA – haben auffallend tiefe Stimmen. Auch unter den anderen Frauen, die in der Sendung präsent waren, gab es keine mit einer hohen Stimme.
Katarina Barley macht hier ein Problem aus, weil es unfair erscheint, dass der Stimmklang darüber mitentscheidet, wie das Gesagte aufgenommen wird.
Sie scheint zu fordern, dass die Gesellschaft lernt, Stimmen anders, fairer wahrzunehmen, um auch Frauen mit hoher Stimme Seriosität unterstellen zu können. Da hat sie sich etwas sehr Großes vorgenommen! Die Art, wie wir Stimmen wahrnehmen, ist über sehr lange Zeiträume geprägt worden und die Muster, denen wir dabei folgen, scheinen sogar kulturübergreifend zu funktionieren.
Da fragt sich, ob es nicht erfolgversprechender wäre, statt am Hören an den Stimmen bzw. den Stimmlagen etwas zu ändern. Und in der Tat hat es in den vergangenen hundert Jahren in Europa eine starke Verschiebung in der Stimmhöhe von Frauen und Männern gegeben. Frauenstimmen sind signifikant tiefer geworden und die Männerstimmen etwas höher. Das ist nicht deshalb passiert, weil die Stimmen in die ein oder andere Richtung trainiert worden wären, sondern dadurch, dass sich Lebensumstände und Selbstverständnis von Europäer*innen stark verändert haben, ganz besonders in Bezug auf das Geschlechterverhältnis und die Gleichberechtigung der Frau, die sich zwar nicht vollendet, aber doch entschieden weiterentwickelt hat. Das Verhältnis von Stimme und Emanzipation ist also in diesem Fall ganz anders als Frau Barley es vermutet. Die Lebensumstände verändern die Stimme! Das bedeutet allerdings nicht, dass nicht auch umgekehrt über die Arbeit mit der Stimme das Selbstverständnis und damit die eigenen Lebensumstände umgebaut werden könnten. Darauf komme ich gleich zurück.
Hier muss zuerst angefügt werden, dass sich die stimmliche Entwicklung von Frauen und Männern in Europa in den vergangenen zehn Jahren wieder umgedreht hat. Heute gibt es wieder viel mehr Frauen mit hohen Stimmen und Männer mit – nicht selten – in die Tiefe gedrückten Stimmen. Kein Wunder, möchte man ausrufen, wenn man sich das Frauenbild anschaut, wie es in den sozialen Medien zumindest im Mainstream zu beobachten ist. Das ist näher an den 1950er Jahren dran als an 1980. (Oder den 1920er Jahren, als es bereits eine Phase gab, in der zumindest bei weiblichen Stars die tiefe Stimme angesagt war. Marlene Dietrich, Zarah Leander, Lale Andersen etc.)
Aus all dem kann man den politischen Auftrag ableiten, sich um die konkrete Ausgestaltung einer gleichberechtigten Welt zu kümmern und annehmen, dass sich bis zu einem gewissen Grade die Frage nach dem Stimmklang und seiner Interpretation sozusagen von selbst erledigt.
Doch da gibt es noch ein paar Aspekte, die man nicht vergessen sollte.
Die Entwicklung hin zu tendenziell tieferen Frauenstimmen hat in meiner Erfahrung als Stimmlehrer dazu geführt, dass viele Frauen nicht gerne hohe weibliche Stimmen hören. Die klingen dann schrill, manchmal fällt in dem Zusammenhang das eigentlich männliche Wort hysterisch. Es scheint also, dass Frauen, die sich dem Modus von Seriosität angleichen, wie er in der männlich dominierten Welt herrscht, den Zugang zu einer Stimmqualität verlieren, der am ehesten das Recht hat, weiblich genannt zu werden: den hohen, starken Sopran. Damit verlieren sie aber zugleich den Zugang zu einer sehr wichtigen Kraftquelle! Die hohe Stimme kann nämlich sehr machtvolle Qualitäten annehmen. Das ist dann nicht mehr das kleine Mädchen, das spricht, sondern die Königin der Nacht.
Mit anderen Worten: Die Orientierung an einem tiefen Stimmideal für die moderne Frau birgt die Gefahr in sich, dass andere Möglichkeiten des Menschseins/Frauseins verschüttet werden. Der Freiraum für das weite Feld weiblich konnotierter Lebensentwürfe wird verengt.
Was also tun? Es liegt nahe, auf den Vorschlag von Frau Barley zurückzukommen und den Fokus von der Stimme auf das Hören zu lenken und zu lernen, hohe Stimmen in allen Spielarten ernst zu nehmen.
Wie gesagt zweifle ich an den Erfolgsaussichten dieser Strategie. Und zwar auch deshalb, weil wir uns oft genug unwillkürlich, aber mit guten Gründen weigern, bestimmte hohe Stimmen ernst zu nehmen. Denn weibliche Stimmen, die nur in der Höhe angesiedelt sind – und das heißt körperlich nur im Kopf klingen – sprechen von einer Enge, die von den Hörer*innen nicht nur stimmlich interpretiert sondern auf die Person übertragen wird. (Natürlich gibt es das Phänomen der engen Stimme auch bei Männern. Nur kommt es bei den Herren nicht in der ganz hohen Stimme vor und wird deshalb nicht so schnell als Einschränkung des seriösen Urteilsvermögens verstanden. Männliche Stimmen, besonders diejenigen, die in der Öffentlichkeit zu hören sind, richten sich oft in dem Bereich ein, der seriös klingt. Diesen Stimmen fehlt dann oft das Spielerische, die Leichtigkeit, die Beweglichkeit.)
Mein Vorschlag für eine stimmlich basierte Unterstützung des Prozesses der Gleichberechtigung besteht aus zwei Komponenten:
Zum einen plädiere ich dafür, die eigene Stimme als integralen Bestandteil des eigenen Seins zu verstehen und vor diesem Hintergrund Wege zu suchen, der Stimme zu erlauben, sich in verschiedene klangliche Richtungen auszubreiten und tendenziell das ganze Feld der eigenen Stimme lebendig zu machen. Statt eine Entscheidung gegen die hohe und für die tiefe Stimme zu fällen, schlage ich vor, allen klanglichen Möglichkeiten der Stimme Raum zu geben. Folge eines solchen Vorgehens wäre, dass höhere Stimmen auch dunklere Anteile bekommen und dadurch ernsthafter klingen. Tiefe Stimmen dagegen werden brillanter und klingen beweglicher, sobald die höheren Stimmanteile in den Gesamtklang integriert werden. Teil dieses Prozesses ist es, die eigene wie fremde Stimmen nicht mehr direkt zu beurteilen, sondern zu lernen, ihren Klang zu deuten, was viel interessanter ist!
Durch diese Arbeit der Befreiung der eigenen Stimme zu sich selbst kommt es mit der Zeit zu einer engen Verbindung von Ich und Stimme, d.h. meine Stimme wird mehr und mehr zu einem ureigenen Teil meiner selbst. Sie ist dann nicht nur das Instrument, mit dem ich meine Gedanken in die Welt bringe, sondern klangliche Präsenz meines Ichs. Diese integrierte Stimme zwingt die Zuhörenden fast dazu, sie ernst zu nehmen. Denn oberflächliche Klangaspekte spielen dann keine dominante Rolle mehr.
Diese Vision von einer Gesellschaft freier Stimmen hat dann allerdings nicht mehr viel mit der Frage von Chancengleichheit in einer kapitalistischen Welt zu tun, sondern zielt auf ein Miteinander von Frauen und Männern, die sich im Prozess der Befreiung zu sich selbst solidarisch unterstützen.
Mehr zu meinen Ideen zur
menschlichen Stimme findet sich u.a. in verschiedenen Büchern. Gerade
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Stimme“, tredtion Verlag,
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