Tuesday, 18 May 2021

Das Leiden der Tiere, die Würde des Menschen, die Wissenschaft und die Kunst

 Überlegungen im Anschluss an einen Text von Thomas Metzinger

 

In der Süddeutschen Zeitung vom 24./25. April 2021 ist unter dem Titel „Im Ozean der Qualen“ ein Artikel des Philosophen Thomas Metzinger erschienen, in dem er sich dem großen Phänomen des Leidens widmet - und den ethischen Fragen, die sich für den Menschen ergeben, der das Leiden so vieler anderer Lebewesen nicht nur nicht verhindert, sondern oft genug verursacht. Der sehr lesenswerte Text bietet mir die Gelegenheit, ein paar eigene Fragen, die sich in meiner Arbeit auf dem überlappenden Feld von Philosophie und Kunst ergeben, zu formulieren und zu durchdenken.

Metzinger ist ein Vertreter der Analytischen Philosophie, die sich u.a. dadurch auszeichnet, ihre philosophische Arbeit vor dem Hintergrund eines naturwissenschaftlichen Weltbildes zu machen. Die Wissenschaft bietet das empirische Material, das es erlaubt, eine begriffliche Klarheit zu entwickeln, die zu philosophischen Thesen führen kann. Im konkreten Falle dieses Textes über das Leiden der Tiere fordert Metzinger von der Neurowissenschaft, sich mehr und genauer mit dem Phänomen des Leidens auseinanderzusetzen, um damit die Grundlage für eine Ethik zu schaffen, die mit guten Gründen für eine Minimierung des Leidens eintritt. So wäre es nach Metzinger dringend notwendig genauer zu wissen, welche Tiere über welche Formen von innerer Selbstbezüglichkeit verfügen, die erst die Möglichkeit eröffnet, unter bestimmten Bedingungen zu leiden. Nicht jedes Lebewesen, dem Verletzungen widerfahren, leidet darunter. Dafür muss das Wesen irgendwie wissen (falsches Wort!), dass es Schmerzen hat und verletzt ist. Metzinger gibt für diese Selbstbezüglichkeit einige Bedingungen an, auf die ich hier nicht en detail eingehen will.

Und er bringt ein Beispiel für die Konsequenzen aus einem größeren wissenschaftlichen Wissen über Leidensfähigkeit der Tiere. Metzinger ist seit langem strikter Vegetarier und hat in dem Zusammenhang aufgehört zu angeln, eine Leidenschaft, der er als junger Mann nachgegangen ist. Er will nicht für das Leiden von Fischen verantwortlich sein, die beim Angeln große Schmerzen erleiden müssen. „Wenn die Wissenschaft mir aber zweifelsfrei nachweisen könnte, dass Fische kein phänomenales Selbstmodell besitzen, also keine Innenperspektive und kein bewusstes Ich-Gefühl, dann würde ich sofort wieder Angeln gehen und mit Begeisterung gegrillten Thunfisch mit indonesischer Erdnusssoße essen.“ Das ist in meinen Augen eine vernünftige Argumentation, allerdings eine, die zugleich zeigt, wie eingeschränkt der Blick nur auf das Leiden der Tiere wirkt. Denn selbst in dem unwahrscheinlichen Fall, in dem die Wissenschaft erkennen würde, dass Fische nicht leiden können, bleiben noch andere gewichtige Gründe, keinen Thunfisch zu essen bzw. den Fischverzehr so weit wie möglich einzuschränken. Ich erinnere nur an die zerstörerischen industriellen Methoden des Fischfangs, wie sie auf den Weltmeeren heutzutage üblich sind.

Eine poetische Weltsicht, wie sie z.B. Joseph Beuys formuliert hat, geht über diese Perspektiven hinaus. Für Beuys ist es die Kunst und nur die Kunst, die die Umweltprobleme, vor denen wir nicht erst seit heute stehen, lösen kann. Ich bleibe hier etwas bescheidener und behaupte nur, dass wissenschaftliche und künstlerische Perspektiven verschiedene Aspekte in den Vordergrund rücken, die alle für den mittlerweile verzweifelten Versuch, die Welt zu retten, ihre Relevanz besitzen.

Doch was genau zeichnet die poetische oder künstlerische Weltsicht aus? Die wissenschaftliche Weltsicht betrachtet die Lebewesen als isolierte Einheiten, die zwar eine Umwelt benötigen, um zu leben, aber ansonsten als eigenständige selbstreferentielle Systeme zu verstehen sind. Daran ist auch nichts falsch, und doch kann die Kunst helfen, diese Perspektive zu relativieren. Eine künstlerisch geprägte Weltsicht geht davon aus, dass die Verbindung zwischen Individuum und Welt viel enger ist als sie wissenschaftlich verstanden wird. Demnach steht der Mensch mit der Welt in einer dialogischen Verbindung. Die Welt und alles in ihr spricht zu mir! Dadurch erhält potenziell alles in der Welt Bedeutsamkeit für mich. Leiden ist dann nicht mehr nur ein individuelles Phänomen. Durch die menschliche Fähigkeit des Mitleidens kann auch von Lebewesen ohne Innenperspektive gesagt werden, dass sie leiden. Insofern leiden die Fische! Und um auf ein für Beuys und meine Arbeit gerade wichtiges Thema zu kommen: Selbst die Bäume leiden! Nicht nur in dem Sinne wie man sagen kann, ein Baum leidet unter der Hitze. Das Leiden der Bäume, das zu einem großen Teil durch menschliches Verhalten erzeugt ist, ist zugleich ein Leiden, das wir Menschen als solches wahrnehmen können. Kunst hilft dabei, genau diese Form des Mitleidens zu üben.

Dazu gehört mehr als der Versuch, das Ausmaß des Leidens in der Welt zu reduzieren. Metzinger schlägt eine Art ethischen Fußabdruck vor, der ähnlich wie der ökologische Fußabdruck zeigt, wie viel Leiden jeder und jede Einzelne durch ihr/sein Leben für andere Lebewesen verursacht. Das ist eine sehr originelle und bedenkenswerte Idee, die offenbar Anleihen im Buddhismus gemacht hat. Auch dort zählt die Reduzierung von Leiden und nicht die Förderung von Glück zu den höchsten ethischen Maximen. Kein Pursuit of Happiness, sondern scheinbar bescheidener: weniger Leid verursachen!

Aus einer künstlerischen Perspektive ist es damit alleine nicht getan. Künstler*innen wissen um die Verletzlichkeit ihrer selbst und der Welt und suchen oft nach Wegen, mit dem daraus resultierenden Leiden umzugehen. Das Leiden ist nun einmal da, wir können uns nicht ausschließlich damit beschäftigen, unseren Leid-Index zu minimieren, sondern müssen uns dem vorhandenen Leid stellen. Zum Beispiel durch Trauern. Da kommt meine Aktion der 7000 (toten) Bäume ins Spiel. Mit der Hinwendung zu den toten und leidenden Bäumen habe ich eine Kunstaktion im Sinne, die sich dem Trauern um die Verluste an der Natur in einer Weise bewusst wird, die eine empathische Reaktion hervorruft. So verwirklicht sich die enge Beziehung zwischen Mensch und Welt, die die Verbundenheit betont statt nur auf den Aspekt der Individualität zu setzen.

Das macht Metzinger an anderer Stelle ebenfalls, und zwar auf sehr originelle Weise. Er zieht eine Verbindung zwischen Leid und Würde. Das interessiert mich wegen meiner Grundgesetzwanderung, in deren Rahmen die Frage nach der Unantastbarkeit der menschlichen Würde die Aktion begleitet hat. Metzinger geht es um einen anderen Punkt. Wir verlieren als Menschen unsere Würde, weil wir trotz Einsicht in die Notwendigkeit es offenbar nicht schaffen, unser gesamtes Handeln so zu ändern, dass es für die Menschheit und die Welt noch Hoffnung gibt, den Klimawandel und die damit einhergehenden Verwüstungen aufzuhalten. „Ein klassisches Verständnis von Würde besagt, dass man nicht nur im anderen, sondern auch in sich selbst immer die Menschheit als ganze respektieren soll.“ Damit spielt Metzinger auf Kants Kategorischen Imperativ an und verlässt die rein naturwissenschaftliche Perspektive, aus der heraus ethische Fragen (nach Kant) gar nicht behandelbar sind.

Kunst geht noch weiter. Für die Künstler*innen u.a. in der Tradition von Joseph Beuys ist nicht nur die Menschheit, sondern die Welt in ihrer Gänze Teil des ethischen Raums, der vom Menschen bedacht werden muss. Der Baum oder der Hase sind nach Beuys „Organe“ des Menschen, also Teil der menschlichen Existenz, die direkt geschädigt wird, wenn seine Teile leiden. Für Beuys hat jedes Leiden auf der Welt direkt mit der menschlichen Seele zu tun. „Die Bäume sind wichtig, um die menschliche Seele zu retten.“

Jeder Akt der Naturzerstörung, jede Verletzung der spezifischen Würde aller Lebewesen wirkt auf den Menschen, der darunter leidet. Kunst muss nach Beuys helfen, dieses Leiden wieder ins Bewusstsein des modernen Menschen zu rücken. Menschen müssen erst wieder lernen wahrzunehmen, dass und wie sie leiden. Das kann die Wissenschaft nicht leisten, weil sie Kategorien wie Würde und Mitleiden nicht zur Verfügung hat. In Beuys´ Worten: „Kunst ist die einzige Form, in der Umweltprobleme gelöst werden können.“

Dieser Satz ist in meinen Augen deshalb richtig, weil sich das vormoderne Weltverständnis, in dem die Dinge und Lebewesen der Welt in einem dialogischen und von gegenseitiger Abhängigkeit geprägten Verhältnis zueinander standen, in die Sphäre der Kunst zurückgezogen hat. Im religiösen Bereich und in der Naturschutzbewegung gibt es ebenfalls Relikte dieses Weltverständnisses. Aber nur die Kunst wird in der Lage sein, das dialogische Weltverhältnis mit den Errungenschaften der Moderne, insbesondere der individuellen Freiheit und dem Recht auf Selbstbestimmung des/der Einzelnen versöhnend in Verbindung zu bringen. Das war das Anliegen von Joseph Beuys und in diesem Sinne sehe ich meine eigene künstlerische Arbeit in seiner Tradition verhaftet. Mein Projekt der „7000 (toten) Bäume“ und die Aktivitäten rund um das „Institut zur Rettung der Welt aus dem Geiste der Kunst – IRWEGK“ sind zwei aktuelle Beispiele dafür.

Nur wenn es unseren Gesellschaften gelingt, die Notwendigkeit eines künstlerischen Weltverständnisses, das gleichberechtigt neben ein wissenschaftliches Ideal gestellt ist, zu akzeptieren, gibt es eine Chance auf Rettung. Die Wissenschaft alleine ist dazu nicht in der Lage, weil sie in ihrem Weltbild viel zu tief in einer Logik verstrickt ist, nach der die Welt und alles in ihr „Gegenstand“ ist, der analysiert und verwertet werden kann. Deshalb sollteübrigens auch die Philosophie ihren Blick nicht auf die Wissenschaft alleine richten. Einige für unsere Welt entscheidende Fragen lassen sich dort gar nicht stellen. In einigen Hinsichten weist nur die Kunst den Weg.