Monday 17 September 2012

"Das Fade in der Stimme" deutsch

Bevor ich ich in die heiße Phase meiner "Dao Series No.2" verabschiede, hier noch etwas Lesestoff! Diesen Artikel werde ich den Besuchern meiner Performance als eine Art Programmheft zu lesen geben, in deutsch, englisch und chinesisch (Mandarin):


Ralf Peters
Das Fade in der Stimme[1]
Die meisten Leute im so genannten Westen würden wahrscheinlich darin übereinstimmen, dass ein Kunstwerk oder eine Aufführung eines nicht sein sollte: fade. Das gleiche gilt vielleicht noch mehr für ein Essen, ein Getränk, eigentlich für jede Form der sinnlichen Wahrnehmung, die als solche eine (angenehme, förderliche) Wirkung auf den Menschen haben soll.
In China, genauer im altchinesischen Denken, sieht die Sache etwas anders aus. Hier ist das Fade merkwürdigerweise absolut positiv konnotiert. Zu einer taoistischen Grundeinstellung etwa würde es gehören, die Fadheit auf verschiedenen Ebenen ins Leben zu lassen.
So heißt es im TaoTeKing des Laotse:
„Musik und gute Speisen
halten Fremde an, die vorüberreisen.
Wenn das Tao durch den Mund geht,
ist es fade und ohne Geschmack.
Man kann es nicht sehen;
Man kann es nicht hören;
Und doch ist es unerschöpflich.“ [2]

Was soll mich als Stimmkünstler an dieser Idee des Faden interessieren oder gar reizen? Ist die Extended Voice Kunst nicht genau das Gegenteil einer faden Kunst, versucht sie doch, so viele Facetten der Stimme in den künstlerischen Ausdruck zu bringen wie irgend möglich, die Vielfalt also in Richtung des Unermeßlichen zu erweitern und so die Erfahrung des Publikums aufregend, ungewöhnlich und eindrucksvoll zu gestalten? Das Fade dagegen hat keine Facetten, keine hervorstechenden Eigenschaften. Ein fades Essen schmeckt nach nichts, ist nicht gewürzt und besitzt keinen charakteristischen Eigengeschmack. Was sollte also an einer faden Stimme erstrebenswert oder reizvoll sein? Meine Vermutung, der ich hier auf den Grund gehen will, erahnt in der faden Eigenschaftslosigkeit eine besondere Form von (stimmlicher) Freiheit. Wir werden noch sehen, was damit gemeint sein könnte.
In der europäischen Philosophie, namentlich von Hegel, wurde Konfuzius, der die chinesische Kultur am nachhaltigsten geprägt hat, ein Denken attestiert, das nicht über die Qualität besserer Kalendersprüche hinauszugehen scheint. Da gibt es keine originelle Theorie, da wird nicht neu gedacht und erst recht keine metaphysische Spekulation gewagt. Was Konfuzius in seinen meistens kurzen Aussprüchen von sich gibt, bleibt oft fade. Die Erwartungen eines Großdenkers wie Hegel werden systematisch unterlaufen. Aber die Größe eines Weisen wie Konfuzius kann man nicht einfach bestreiten, mit Kalendersprüchen prägt man nicht über Jahrtausende eine der großen Kulturen der Menschheit. Was hat Hegel da nicht verstanden? Was ist ihm, dem europäischen Philosophen, entgangen?
Eine zufriedenstellende Antwort auf diese Frage wäre zugleich eine umfassende komparative Studie zum europäischen und chinesischen Denken[3]. Für unseren Zusammenhang (der Stimmkunst) ist ein Aspekt dieses Unterschieds im Denken besonders relevant. Der europäische Philosoph ist (war?) ein Denker des Allgemeinen, das in klaren und distinkten Aussagen und Theorien formuliert ist. Aufgabe des Lesers oder Zuhörers ist es, die philosophischen Gebäude so genau wie möglich im eigenen Intellekt nachzuvollziehen (und ihre Wahrheit zu erkennen). Der chinesische Weise dagegen ist ein Denker des Situativen, der seine Hinweise in oft unscheinbaren Anspielungen gibt, die vieles offen lassen. Und genau diese Offenheit ist es, die der Leser zu nutzen aufgefordert ist, um die Hinweise wiederum auf seine Situation zu beziehen und die Lehre daraus zu ziehen. Die Arbeit des Lesers chinesischer Werke ist daher ganz anders gelagert als die einer westlich-philosophischen Lektüre. Das wird vielleicht noch deutlicher bei einem anderen kulturprägenden Denker Chinas, bei Laotse, dem (wahrscheinlichem) Verfasser des TaoTeKing, einem Werk, das allerdings zumindest auf westliche Leser alles andere als fade wirkt, sondern im Gegenteil einen eigentümlichen Reiz ausübt. Der Versuch, das TaoTeKing als ein philosophisches Weisheitsbuch voller allgemeiner Wahrheiten zu lesen, geht völlig am Eigentlichen vorbei. Da gibt es keine allgemeinen Wahr­heiten, sondern Sätze und Sprüche, die erst in der aktuellen situativen Anwendung ihre ungeheure Kraft und Wirkung entfalten[4].
Was hat dies alles mit Fadheit zu tun? Fadheit stellt im Taoismus das Fundament der Realität dar, oder besser, in den Worten Julliens, den Fonds, aus dem sich die Welt mit all ihren charakteristischen Eigenheiten erheben kann. Der Fonds ist fade, weil er noch vor aller Festlegung ist. Jeder Geschmack ist auf sich festgelegt, er kann nur sein, was er ist und zugleich auf sein Gegenteil verweisen. Das Fade als das Geschmacklose aber hält den Raum möglicher Geschmäcker ganz offen. Weil es keine Festlegung gibt, ist noch alles möglich. Deshalb „schmeckt der Weise, was ohne Geschmack ist“, so wie er „tut, was ohne Tun ist und schafft, was ohne Geschäft ist“[5].
Die grundlegende Polarität der Welt, für die heute sozusagen global-folkloristisch das Yin/Yang als Chiffre fungiert, diese Polarität führt „von selbst“ vom Faden zum Geschmackvollen. Da gibt es nichts zu tun, denn das Fade besitzt in sich die Neigung zu seinem anderen Pol. Diese von selbst ablaufenden Prozesse, für die im klassischen Chinesisch der Begriff ziran steht, sind eines der großen Themen der chinesischen Weisheitslehre. Je genauer ich die Fadheit, die (noch) keine individuelle Charakteristik besitzt, „schmecken“ kann, umso besser kann ich erkennen, wohin oder zu welchem Geschmack sich das Fade in dieser Situation entwickeln will. Dieser Neigung des Faden kann ich folgen und sie für mich nutzbar machen, ohne handelnd, d.h. den natürlichen Lauf der Dinge ändernd, eingreifen zu müssen.
Wenn ich als Stimmkünstler versuche, diese Prozesslogik auf meine Stimme zu übertragen, wird es darum gehen, die Stimme von allen charakteristischen, interessanten oder gar originellen Klängen und Tönen zu entleeren und dann von diesem Ort des Faden aus nachzuhorchen, wohin die Stimme sich von selbst entwickeln will. Die Suche nach dem Faden in der Stimme wäre also die Suche nach einer großen Offenheit der Stimme für all ihre Potentiale und zugleich die Schulung des Gehörs hin zu einer Offenheit, die bemerkt, wohin die Stimme sich aus dem Faden heraus bewegen will. Stimme und Gehör sollen auf dem faden Weg befreit werden von individuellen Wünschen, Vorlieben und Gewohnheiten, die Persönlichkeit darf ausruhen und dem offenen Stimmfeld die Regie überlassen.
Meine Dao-Series sind der Versuch, mich dieser stimmlichen Prozesslogik des Faden anzunähern.
Im Chinesischen bedeutet das Wort dan sowohl Fadheit als auch innere Loslösung, denn, wie Jullien ausführt, „der in den Dingen empfundenen Fadheit entspricht die Fähigkeit zur inneren Loslösung“, der „Geschmack fesselt uns, die Fadheit löst uns los“[6]. Loslösung von den eigenen Vorlieben, Gewohnheiten und vielleicht auch Ängsten über den Umweg der Fadheit - mit diesem daoistischen Versprechen eröffnet sich dem Stimmkünstler ein Weg, die Stimme gewähren zu lassen, ihr die Freiheit zu erlauben, den eigenen (daoistisch formuliert: den natürlichen) Neigungen zu folgen und sie auszuleben. Die Fadheit ist dabei die innere Situation, die alle stimmlichen Möglichkeiten eröffnet und miteinander in Verbindung hält, die die Grundlage darbietet, auf der auch die Extreme miteinander kommunizieren könne. In meiner Terminologie gesagt: Die Fadheit ist die Grundfarbe des offenen Stimmfeldes. Hier ist die Stimme bei sich. Wenn es mir gelingt, meine Stimme in die Fadheit zu bewegen, ist von dort aus  „alles“ möglich.

Langsamer Rhythmus, entspanntes Spiel:
In tiefer Nacht eine einfache Melodie.
Sie dringt ins Ohr, fade, und ohne Geschmack;
Das Herz ist ruhig, die Gefühle ganz bei sich.[7]

Noch in einer anderen Hinsicht ist das Fade stimmkünstlerisch von Belang. Bisher war von der Fadheit als einer Voraussetzung die Rede, die der Stimme die freie Bewegung auf dem ganzen Stimmfeld ermöglichen kann.[8] Doch die musikalische Tradition in China hat dem faden Klang selbst durchaus einen positiven Wert zugeschrieben. Nicht der lauteste Klang ist der wirkungsvollste, heißt es da, sondern derjenige, der den stärksten Nachklang erzeugt. Nachklang benötigt Stille, und je enger die musikalisch erzeugten Klängen und die Stille verwoben sind, um so stärker wird die Wirkung meiner Musik sein. Nicht Ausbeutung des Klanges bis zum letzten[9], sondern Raum schaffen für einen Nachklang im Bewußtsein des Hörers ist das Ziel der Musik.
Die Idee des Nachklanges ist für die Stimmkunst überaus reizvoll. Denn im Zuhören einer anderen Stimme werde ich immer auch meine eigene Stimme hören. Die Stimme ist das „Instrument“, das alle Menschen in sich tragen. Bei aller individuellen Unterschiedlichkeit im Stimmklang gibt es einen gemeinsamen Fonds, gibt es das Wissen und manchmal auch nur die Ahnung, dass die Klänge, die ich gerade höre, auch aus mir kommen könnten, Teil meiner Stimme sind und in ihr lebendig werden könnten. Der Raum des Nachklanges wird mir erleichtern, in diese Erinnerung und Anregung einzutauchen. Die Fadheit wirkt dabei wie eine freundliche Einladung, diesen gemeinsamen Raum zu betreten. Denn im anstrengungslosen, faden, künstlerisch noch ungeformten Stimmklang finden wir uns am ehesten wieder. Dazu kommt ein weiterer Aspekt, der in der Roy Hart Stimmentwicklung im Zentrum steht: Die menschliche Stimme ist weder beim Singenden noch beim Zuhörenden je ein rein klangliches Phänomen. Die Stimme ist verbunden mit einer inneren Situation, einer Stimmung, genauer gesagt ist sie Teil dieser Stimmung, der Teil, der in Kommunikation mit der äußeren Situation und Stimmung treten kann[10]. Als hörbare Stimme trifft sie auf das Gehör eines anderen, der die Stimme in die eigene Stimmung einfließen lassen kann, die, dadurch beeinflusst, eine neue Farbe annimmt. Da muss nicht notwendigerweise im Zuhörenden dieselbe Stimmung entstehen wie beim Tönenden, aber der Raum für diese Berührung der inneren Situationen wird von der Stimme geöffnet – und von der Stille vervollkommnet, könnte man aus chinesischer Perspektive hinzufügen. Diese „innere Empfindung“ lebendig zu machen und zu halten ist für die chinesische musikalische Tradition das Anzustrebende. Dafür muss es nicht einmal notwendig sein, überhaupt einen Ton zu erzeugen.
„Dian ließ den Ton seiner Zither vergehen,
Zhao enthielt sich des Saitenspiels:
In all dem ist eine Melodie, die man singen
und nach der man tanzen kann.“

heißt es in einem Gedicht von Su Dongpo[11].
Es gibt also verschiedene Ansatzpunkte, um das Fade in die Extended Voice einzubringen. Die „Dao Series No. 2“ am 18. und 19. September im TAV widmen sich diesem Thema.


[1] Diese Gedanken zum Faden in der Extended Voice orientieren sich stark an Francois Julliens Buch „Über das Fade – eine Eloge“. Berlin 1999, original: Eloge de la Fadeur, Arles 1990
[2] zitiert nach Jullien in der Übersetzung von Günter Debon.
[3] Francois Jullien hat diese Arbeit geleistet und ich kann hier nur dazu ermuntern, seine Bücher zu lesen.
[4] Deshalb gibt es, wie der südafrikanische Taoismusforscher James Edwards sagt, auch keine „falschen“ Übersetzungen des Buches des Wegs und der Wirkung. Jede Übersetzung stellt selbst eine situativ geprägte Wirkung des TaoTeKing dar. Edwards ruft deshalb dazu auf, seine eigene Übersetzung anzufertigen, statt sich (nur) auf andere zu verlassen! Vgl. James Edwards: The Immortal Idiot. An eternal notebook, Hsinchu 2012
[5] Jullien, S. 33
[6] Jullien, S. 35f.
[7] Bo Juyi, ein chinesischer Dichter des 8./9. Jahrhunderts, zitiern nach Jullien S.91
[8] Nebenbei: Das sind natürlich alles Vermutungen meinerseits, die mir als Arbeitshypothesen u.a. für die Dao-Series dienen. Ob sie sich im künstlerischen Prozess bestätigen, wird sich jedes Mal neu erweisen müssen. Ich suche nicht nach der „Wahrheit“ des Faden, sondern nach Wegen der Stimmbefreiung.
[9] vgl. Jullien, S. 67!
[10] Sie ist nicht der einzige Teil, auch der Körper kann diese Kommunikation beginnen, ebenso wie der Geist, wenn er z.B. mit Hilfe der Hand etwas aufschreibt.
[11] zitiert nach Jullien, S. 81

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